Gutachten
Thema: Der arztfreie Bereich in der Krankenpflege Auftraggeber: Bundesfachvereinigung
Leitender Krankenpflegekräfte in der Psychiatrie
Die moderne Medizin ist gekennzeichnet durch eine wachsende Spezialisierung
und Technisierung, die eine immer differenziertere Arbeitsteilung zwischen approbiertem
Arzt und nichtärztlichem Hilfspersonal notwendig macht.
Der Zweck einer Verteilung der Verantwortungsbereiche kann allerdings nur dem
Schutz des Patienten gewidmet sein. Gleichwohl besteht bei den am Behandlungsprozess
beteiligten Personen ein Bedürfnis nach Rechtssicherheit.
Die Feststellung, ob ein Wirkungskreis besteht, der von den Pflegekräften
eigenverantwortlich, ohne Vorliegen einer ärztlichen Anordnung wahrgenommen
werden kann, erlangt in der Beantwortung dieser Frage eine Schlüsselrolle.
B. der ärztliche Kompetenzbereich
Die Widmung des Problems, ob ein "arztfreier Bereich" besteht, setzt
zunächst die Abgrenzung des ärztlichen Verantwortungsbereichs voraus.
Trotz des immer dichter werdenden Netzes von Gesetzen, Verordnungen und sonstigen
Vorschriften findet sich im deutschen Gesundheitsrecht keine Vorschrift, in
der unmittelbar das Tätigkeitsfeld des Arztes beschrieben ist. Zur Erfassung
des Aufgabenbereichs ist daher noch immer auf das Heilpraktikergesetz (HprG)
aus dem Jahre 1939 abzustellen.
Gem. § 1 Abs. 2 HprG wird die Heilkunde als jede berufs- und gewerbsmäßig
vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten,
Leiden oder Körperschäden beim Menschen definiert. Unter Zugrundelegung
von § 1 Abs. 2 HprG ist der ärztliche Kompetenzbereich allumfassend
zu verstehen. Diese indirekte Legaldefinition geht allerdings zu weit. Ein eindeutiger
Regelungsgehalt kommt ihr letztlich nicht zu.
Folgendes Beispiel mag dies verdeutlichen: Der eine Stressreduzierung verordnende
Arzt müßte sich beispielsweise selbst in das Kamala begeben, um die
verordnete Therapie durchzuführen.
Diese situative Beschreibung legt offen, dass eine eindeutige Bestimmung des
ärztlichen Arbeitsfeldes durch § 1 Abs. 2 HprG nicht ermöglicht
wird. Insbesondere lässt sich nicht die Behauptung aufstellen, jeder Handgriff
im ärztlichen Umfeld sei von diesem genau determiniert.
Dagegen spricht alleine der Umstand, dass Pflegekräfte einen derartigen
Grad an Selbständigkeit erlangt haben, dass der Arzt in der Tat bei der
Durchführung der pflegerischen Maßnahmen keine Rolle mehr spielt.
5 Ein persönliches Eingreifen des Arztes ist vielmehr dann zu fordern,
wenn die betreffende Tätigkeit Kenntnisse und Kunstfertigkeiten voraussetzt,
die ausschließlich nur dem Arzt eigen sind.
6 Es dürfte niemand bestreiten, daß medizinischer Sachverstand im
operativen Sektor unverzichtbar ist. Genausowenig dürfte der Kernbereich
des ärztlichen Wirkens, die Diagnosenstellung und die Erarbeitung eines
Therapieplans in nichtärztliche Hände übertragbar sein. Ob den
Synergetik Therapeuten außerhalb dieses so gefaßte ärztlichen
Kompetenzbereiches ein "arztfreier Raum" zur Verfügung steht,
verdichtet sich in der Frage welche Therapietätigkeit nicht der Diagnose
zuzurechnen sind.
3. Nachtstuhl-Entscheidung Eine deutliche Konturierung der ärztlichen und
pflegerischen Verantwortungsbereiche lässt sich dem sog. Nachtstuhl–Urteil
des Bundesgerichtshofs vom 18.12.1990 (BGH VI ZR 169/90) entnehmen. Auf die
Klage einer Krankenversicherung wurde ein Krankenhausträger zu Schadensersatz
verurteilt. Der Versicherer machte aus übergegangenem Recht Ansprüche
seines Versicherten geltend, der als halbseitig gelähmter Patient auf seiner
Station zu Fall kam, als ihn die Krankenschwester vom Nachtstuhl heben und auf
die Bettkante setzen wollte. Der Patient zog sich durch den Sturz einen Oberschenkelhalsbruch
am linken Bein zu.
Die Richter haben festgestellt, dass das realisierte Risiko einem Bereich entsprang,
der von dem Träger der Klinik und dem dort tätigen Personal voll beherrscht
werden konnte. Ferner wird von den Richtern verdeutlicht, dass das Verhalten
der Krankenschwester auch dem eigentlichen Aufgabenbereich des Pflegepersonals
zuzurechnen ist und nicht den "Kernbereich" ärztlichen Handelns
betrifft. Der reibungslose Ablauf von Transport- und Bewegungsmaßnahmen
ist ausschließlicher Bestandteil der Verpflichtung des Krankenhausträgers
zu sachgerechter pflegerischer Betreuung. Mit dieser Entscheidung tritt der
Bundesgerichtshof deutlich den Meinungen entgegen, nach denen es keinen Bereich
der stationären Krankenversorgung gebe, der nicht der ärztlichen Aufsicht
oder Verantwortung unterliege.
27 Der Bundesgerichtshof qualifiziert die Grundpflege in dieser Entscheidung
als originäre Aufgabe von Krankenschwestern und
Krankenpflegern. Diese Aufgabe leitet sich nicht aus dem ärztlichen Tätigkeitsbereich
ab, die Weisungs- und Überwachungskompetenz steht daher ausschließlich
der Pflegedienstleitung zu.
E. Fazit In Ermangelung einer klaren gesetzlichen Regelung lässt sich die
Begründung eines vom pflegerischen Personal eigenverantwortlich und weisungsunabhängigen
Aufgabengebietes nur aus den von der einschlägigen Rechtsprechung entwickelten
Grundsätzen herleiten. Hiernach lässt sich die Aufgabenwahrnehmung
im Bereich der Grundpflege - in diesem Sinne als „arztfreier“ Raum
- herleiten.
. Zum Teil wird in jeder pflegerischen, auf Heilung ausgerichteten Verrichtung
eine dem approbierten Arzt vorbehaltene Heilbehandlung gesehen, denn auch einfache
Dienstleistungen wie etwa Betten und Lagern des Patienten dienen der Unterstützung
des Heilungsprozesses und fördern diesen 29. Wird in den weiteren Begründungen
gar auf eine Gefährdung des ärztlichen Therapieplanes durch therapeutische
„Alleingänge“ des Pflegepersonals hingewiesen 30 verschließt
sich diese Argumentation nicht einer gewissen Polemik. Ursache hierfür
könnte das zähe Ringen zwischen Ärzteschaft und Pflegenden um
althergebrachte Zuständigkeitsbereiche sein. Die Anerkennung von Verantwortungssphären
kann sich jedoch weder aus den berufspolitischen Emanzipationsbestrebungen der
Pflegekräfte, noch aus dem Beharren der Ärzteschaft auf alten Strukturen
ableiten. Ein eigenständiges Tätigwerden des Pflegepersonals hat sich
vielmehr uneingeschränkt an dem umfassenden Schutz des Patienten auszurichten.
Die ärztliche Gesamtverantwortung ist daher immer dann zu verlangen, wenn
durch pflegerische Maßnahmen eine Gesundheitsbeeinträchtigung zu
befürchten ist. Typischerweise ist dies im Bereich der Grundpflege regelmäßig
nicht anzunehmen.
Verglichen mit der dreijährigen Ausbildungszeit aller Pflegekräfte
wird deutlich, dass bereits ein Vergleich der Ausbildungssituationen zugunsten
eines Kompetenzvorsprungs der Pflegekräfte im Bereich der Grundpflege spricht.
Spezieller Teil – „Das Therapieangebot Körperwahrnehmung“
Die allgemeine Begutachtung hat ergeben, dass eine spezielle gesetzliche Regelung
über einen, von der ärztlichen Weisung unabhängigen, in eigener
pflegerischer Verantwortung wahrzunehmenden Aufgabenbereich nicht existiert.
Nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen, hat sich die
jeweilige Einordnung, an dem speziphischen Gefahrenschutz des Patienten auszurichten.
Das bedeutet, dass eine gesonderte Beurteilung einer (möglichen) Gefährdungssituation
der Therapiepatienten in jedem Einzelfall zu erfolgen hat. Hierbei sind die
bestehenden Krankheitsbilder und die Möglichkeit einer Manifestierung,
bzw. Verschlimmerung der Symptome, durch die Teilnahme an den Bewegungs-, Entspannungs-
und Meditationsübungen zu untersuchen. Sollte diese Überprüfung
ergeben, dass dem Therapieprogramm Gefährdungsmomente innewohnen, verlangt
die Einstufung des Angebots der „Körperwahrnehmung“ im Sinne
des Patientenschutzes das Vorliegen des ärztlichen Fachwissens. Wenngleich
der Inhalt des Therapieangebots seiner Zielrichtung nach insgesamt ungefährlich
erscheinen mag (progressive Muskelentspannung, Bewegung nach Musik, Meditation),
ist es vorstellbar, dass bestimmte Patientengruppen (Psychotiker, Suizidenten)
aufgrund ihres Krankheitsbildes einer besonderen Gefährdung ausgesetzt
sind.
Sollte aus diesen Indikationen möglicherweise eine Patientengefährdung,
sei es nur aus Berührungsüberempfindlichkeit, resultieren, ist ärztliches
Fachwissen verlangt.
izinische Überprüfung, dass die Inhalte der Körperwahrnehmungsübungen
keinerlei Gefährdungen für die Patienten nach sich ziehen können,
entspricht das Therapieangebot eher dem Bereich der weisungsunabhängigen
Grundpflege. Dies hätte zur Folge, dass die Therapie in eigener Verantwortung
ohne Anordnungsbefugnisse und vor allem ohne Interventionsmöglichkeit des
ärztlichen Personals, von Pflegekräften durchgeführt werden könnte.
Die langjährige Praxis und die guten Therapieerfolge stützen eine
derartige Annahme. Soweit die Durchführung der Maßnahme „Körperwahrnehmung“
dem Pflichtenkreis der Pflegekräfte zuzurechnen ist, schadet es nicht,
dass das Angebot als ergänzende Therapie zu der ärztlichen Behandlung
erachtet wird. Im Sinne einer disziplinübergreifenden Behandlung der Patienten,
ist auch von den Pflegekräften, Hilfestellung und Begleitung des ärztlichen
Gesamtkonzepts zu erwarten.
In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass die Sicherung einer
umfassenden Inanspruchnahme im gewachsenen Leistungssystem des Pflegebereichs
ohne den Einsatz fachlich qualifizierten Personals nicht zu realisieren ist.
Wenngleich der gesetzgeberische Wille auch nach den neueren Gesetzesnovellierungen
nicht eindeutig zum Vorschein tritt, ist eine Tendenz der Verantwortungsstärkung
der Pflegekräfte zu bemerken. Die neueren Entwicklungen sind gekennzeichnet
durch erhebliche Qualitätssteigerungen der Pflegekräfte und eines
ebenso gesteigerten Pflegebedarfs, der wiederum zu zunehmenden beruflichen Erfahrungen
der Pflegekräfte führt. Die vielfältigen Aufgaben der Pflegekräfte
mit ihrem hohen Qualitätsstandard und ausgeweiteter beruflicher Erfahrung
sind ohne Zweifel im Krankenhaus, in der Alten- sowie der ambulanten Pflege
nicht mehr wegzudenken, auch ist ein in der Praxis längst selbstverständlich
gewordenes eigenständiges Handeln der Pflegekräfte nicht mehr in einer
dem Patienten gegenüber verantwortbarer Weise in Abrede zu stellen. Dies
gilt umso mehr, bei der Berücksichtigung, dass die Ärzte durch die
Personalknappheit gezwungen sind, sich auf ihre eigentlichen medizinischen Aufgaben
zu beschränken. Die umfassende Inanspruchnahme der gewachsenen Versorgung
des Patienten nur unter der verantwortlichen Übertragung auf das Pflegepersonal
zu gewährleisten. Dies wird auch in der neueren Rechtsprechung ausdrücklich
erkannt und bestätigt. Unabhängig von den viel diskutierten Fragen
eines „arztfreien Raums“ steht jedenfalls fest, dass der Arzt im
Krankenhaus dem Patienten die ihm obliegende medizinische Versorgung nicht im
„pflegefreien Raum“ sichern kann.
Auf der Grundlage des Positionspapiers „Kooperation zwischen Ärzten
und Pflegeberufen“ welches die Bundesärztekammer und Pflegeorganisationen
am 22.10.1993 vorgelegt haben, ist eine verantwortungsvolle Patientenversorgung
im Krankenhaus nur durch interprofessionelle Kooperation gewährleistet.
Es ist von einer gemeinsamen Verantwortung der Pflegekräfte und der Ärzteschaft
auszugehen
Die Abgrenzungen Grund- und Behandlungspflege kennzeichnen letztlich die typisch,
primären Verantwortungssphären. Abschließend ist darauf hinzuweisen,
dass durch die Streichung des Konzepts dem Patienten ggf. eine fundierte Heilungschance
genommen wird. Selbst wenn man den Rechtsansichten folgt, nach denen eine Gesamtverantwortung
des Arztes anzunehmen ist, bedeutet dies nicht, dass dem Patienten bewährte
Heilungsmöglichkeiten ohne konkrete sachliche Begründung genommen
werden dürfen.
Der Arzt ist vielmehr verpflichtet, dem Patienten, eine dem derzeitigen medizinischen Standard entsprechende Heilbehandlung zukommen zu lassen. Unter Zugrundlegung der nachweisbaren Effektivität der Therapie „Körperwahrnehmung“ kann man im Ergebnis daher auch bei unterstellter Qualifizierung als Behandlungspflege samt ärztlicher Anordnungsbefugnis den Schluss ziehen, dass die Therapieofferte dem „medizinischen Standard“ entspricht und damit für die optimale Patientenversorgung nicht zu entbehren ist. Auch in diesem Sinne kann die Absetzung fehlerhaft und rechtswidrig sein.